Episode 28 / 1983: Ein Nierentisch steht im Weg

Julius Posener und Wolf Jobst Siedler melden sich zu Wort

"Organisches Bauen", in den 80ern als "Nierentisch" klassifiziert - hier Innendesign der Kongresshalle der 50er

Auch nach dem Beschluss des Berliner Senats, die Kongresshalle wieder aufzubauen, geht der nun schon drei Jahre währende Streit um die Ruine weiter. Schließlich geht es um 30, 50 oder auch 100 Millionen DM, je nach dem, welcher Rechnung man glauben möchte. Gleichzeitig plant man den Bau des Kammermusiksaals nach Plänen von Hans Scharoun. Auch dieses Projekt ist umstritten, denn Scharoun, der Architekt der Philharmonie, ist 1972 gestorben und hat zur „kleinen Schwester“ der Philharmonie kaum mehr hinterlassen als eine Handskizze. „Aber eines geht nur – entweder die Halle oder den Kammermusiksaal,“ kommentiert der damalige Finanzsenator Gerhard Kunz (der im Übrigen Vorsitzender der „Atlantischen Gesellschaft“ ist) die Berliner Bauwünsche zur bevorstehenden 750-Jahr-Feier 1987. So spitzt sich die Diskussion um den Wiederaufbau der Kongresshalle trotz Senatsbeschluss noch einmal zu. Der Kammermusiksaal hat mit Herbert von Karajan einen Fürsprecher, dessen Wort schwer wiegt in der Stadt, die sonst wenig Weltklasse zu bieten hat. Und auch der alte Herr der Berliner Architekturkritik, der hoch angesehene Julius Posener, erhebt, solcherart vor die Wahl gestellt, seine Stimme. Es sei eine nie wieder kommende Chance, einen nachgelassenen Entwurf des großen Scharoun posthum verwirklichen zu können. Dies sei nicht zu vergleichen mit dem sinnlosen Wiederaufbau eines Gebäudes, dessen architektonische und konstruktive Unzulänglichkeit durch seinen Einsturz endgültig bewiesen worden sei: „Welch ein Glück, meinten wir, dass dieses problematische Gebäude endlich unbenutzbar geworden ist,“ schreibt Posener in einem Leserbrief an die „Bauwelt“. Aber da es um die 750-Jahr-Feier geht, soll es, nach alter Berliner Tradition, nicht kleinlich zu gehen: Weise beschließt der Senat im August 1983, einfache beide Großprojekte zu realisieren und zusätzlich noch die Sanierung des Martin-Gropius-Baus, macht zusammen 200 Millionen – das waren Zeiten! So werden also die Gelder für den Wiederaufbau der Kongresshalle zur Verfügung gestellt, ohne dass man weiß, wofür man deren Räume jemals gebrauchen wird. (Tatsächlich wird die Kongresshalle nach ihrer Wiedereröffnung zur 750-Jahr-Feier erstmal ein paar Monate leer stehen.) Ein einzelner empörter Leser schreibt an das „Volksblatt Berlin“, in Erinnerung an vergangene Bauskandale: „Es ist schon ein starkes Stück, dass [...] ohne ein vernünftiges Nutzungskonzept, dem Steuerzahler wie zu besten SPD-Zeiten solch ein kostenträchtiges Renommierprojekt zugemutet wird.“ Es gebe keinen „praktischen Nutzen“, niemand wolle „eine wiederhergestellte Halle“ haben, konstatiert auch Wolf Jobst Siedler. Der Berliner Autor und Verleger, Herausgeber unter anderem der Albert-Speer-Biografie ist einer der wortmächtigen und engagiertesten Gegner des Wiederaufbaus und gibt den Kampf noch nicht verloren. In der „Zeit“ schreibt er auf einer ganzen Seite über „Das Dilemma um den Wiederaufbau der Berliner Kongresshalle“. Schinkel-Preisträger Siedler, über den Richard von Weizäcker urteilte, er habe „einen schönen Nachruf nach dem anderen auf das untergegangene Berlin geschrieben“, gilt als einer der letzten „Vertreter des Preußengeistes“. Die Gegend zwischen Kongresshalle und Reichstag, so Siedler, sei ein „historischer Stadtraum erster Ordnung“, ein politisches und kulturelles Zentrum des 19. Jahrhunderts, „gebildet aus altem Generalstab, dem Palais Raczinski mit der größten Gemäldesammlung der Stadt, dem Palais Bettina von Arnims, Krolloper, [...] den glanzvoll konzipierten Zelten, dem Palais der Pourtàles und endlich eben mit Wallots Reichstag und Stracks Siegessäule.“ Die Kongresshalle aber, diese „liebenswürdige Nichtigkeit“, „hat keine Ahnung von dem, was hier einmal war, und von dem, was einmal sein soll.“ Folgerichtig lautet auch die Überschrift seiner gründlichen Abrechnung mit dem offenbar verhassten Objekt: „Ein Nierentisch steht im Weg“. Aber Siedler weiß es selbst, es ist zu spät. Aus Gründen der „politischer Pietät“, wie er befindet, ist der Wiederaufbau längst unumstößliche Tatsache geworden. Streit gibt es nur noch um die Ausführung des Wiederaufbaus – kann man die Kongresshalle wirklich „postkartengleich“ wiederherstellen, wie es im Senatsbeschluss gefordert wird? Die offene Ausschreibung der Wiederaufbauarbeiten bringt die unterschiedlichsten Konstruktionen zum Vorschein. Kurzzeitig sehr populär ist ein Modell der Firma Krupp, das die alten Betonbögen durch Fachwerkträger aus Stahl ersetzt, zwischen denen eine Zeltbahn aufgespannt wird. Den Zuschlag erhalten im November aber Dyckerhoff & Widmann, die die „postkartengleiche Wiederherstellung“ garantieren. Das neue Dach soll sogar besser werden als das Original – die Ingenieure der Baufirma wollen nämlich die in den Fünfzigern ursprünglich vom Architekten Hugh Stubbins geplante Konstruktion verwirklichen, die damals von der Berliner Baupolizei gestoppt worden war. Das neue Dach nach alter Vorlage scheint wirklich die bessere Konstruktion zu sein: Es hält bald fast so lange wie das alte Dach und zeigt bis heute, bei penibelster jährlicher Inspektion, keinerlei Zeichen nachlassender Tragfähigkeit.
Steffen de Rudder

Steffen de Rudder, Bauhaus-Universität Weimar, ist Verfasser des Buches „Architektur im Kalten Krieg – Die Berliner Kongresshalle von Hugh Stubbins“ .

Bauwelt, 19/1982
Volksblatt Berlin, 10.6.1983
Tagesspiegel, 31.8.1983
Zeit, 16.9.1983
Welt am Sonntag, 19.6.1983