1966: Konsumterror, Vietnamkrieg und Freiheitsschutzmacht USA

Pasolini in der Kongresshalle, Dutschke auf dem Kurfürstendamm

1966, Pier Paolo Pasolini , Copyright: ullstein - Heinz Köster

Die Atmosphäre bei den großen Versammlungen in der Kongresshalle lässt spüren: Nicht nur kalendarisch stehen die Eruptionen von 1967 und 1968 kurz bevor. Als Walter Höllerer hier seiner Lesungsreihe „Literatur im technischen Zeitalter“ eine Diskussionsserie zu „Veränderung im Film“ folgen lässt, finden die Auseinandersetzungen draußen auf den Berliner Straßen, die bereits in diesem Jahr an Wucht zunehmen, ihr Echo. Natürlich ist das Auditorium überfüllt, als etwa Pier Paolo Pasolini im Januar zu seinen Filmen spricht. Polizei muss ordnen. Ernst Schnabel sagt die Übertragungen im 3. ARD-Programm an und erzählt: “Es waren nächtliche Séancen in der Kongresshalle …“ Nach Ausschnitten aus „Mamma Roma“ oder „Das Evangelium nach Matthäus“ befragt Höllerer Pasolini – auch zu dessen Revolutionsbegriff. Und der erläutert Termini wie Zerstörung des Individuums qua Konsumgesellschaft und subproletarische Klasse und Leiden der Dritten Welt.

Draußen auf den Straßen Berlins: Im Februar demonstrieren 2500 Studenten gegen den Vietnamkrieg, blockieren den Kudamm, nehmen dann zum Sitzstreik vorm Amerikahaus Platz. Die US-Fahne wird runtergeholt, Eier und Tomaten fliegen. Die West-Berliner Presse urteilt „Die Narren von West-Berlin“ und „Schande für Berlin“. Tenor: In Süd-Vietnam würden die USA die Freiheit ebenso verteidigen wie in West-Berlin. CDU-Landesvorsitzender Amrehn diagnostiziert „geistige Knochenerweichung“.

Kurz danach prangen dann weiße Parolen am Henry-Ford-Bau der FU: „Ami go home! Killer go home!“. Ist das Anti-Amerikanismus? Von wegen: Die Ziele und vielleicht auch die Irrtümer sind ja dieselben wie bei den Vietnamkriegs-Auseinandersetzungen in den USA und auch die Formen stammen von dort, das Sit in, Teach in, Happening. Sie werden jetzt an den Universitäten zum gängigen Mittel der Aktion. So hat sich eine neue transatlantische (Lern-)Partnerschaft herausgebildet. Ein 12stündiges Sit in von 3000 Studenten findet zum Beispiel im Juni vorm Akademischen Senat der FU statt, diesmal gegen Zulassungsbeschränkungen und Zwangsexmatrikulation. An der FU ist auch der ASTA-Vorsitzende besorgt, im Treffen mit dem Regierenden Bürgermeister Albertz einen Tag vor Heiligabend spricht er laut „Tagesspiegel“ von „kindischen Aktionen einiger Studenten auf dem Kurfürstendamm“. Was er meinte, waren die Aktionen von Kommune 1 und SDS.

Kunzelmann und Langhans und die anderen Kommunegründer hatten eine Vietnam-Demo umfunktioniert mit Gesängen wie „Weihnachtswünsche werden wahr, Bomben made in USA“. Ein paar Tage darauf folgte eine „Spaziergangsdemo“ im Einkaufstrubel auf dem Kurfürstendamm. Rudi Dutschke mit Weihnachtspaket unter dem Arm, Kindertrompeten blasen an immer neuen Stellen zum kurzfristigen Sammeln. Aber es gibt auch ernsthafte Ansagen. Protesten gegen die Bildung der Großen Koalition am 1. Dezember folgt der Aufruf Dutschkes zur Bildung einer „Außerparlamentarischen Opposition“. Die APO hat nun ihren Namen.

Es ist anzunehmen, dass viele Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung im Oktober das alles überhaupt nicht lustig haben finden können. Unter dem Motto „Berlin wählte die Freiheit!“ erinnert die SPD in der Kongresshalle an die einzigen halbwegs demokratischen Gesamtberliner Wahlen 20 Jahre zuvor, Wahlen, aus denen die Sozialdemokratie als haushoher Sieger hervorgegangen war. Es wird die Verteidigung der Freiheit durch die Berliner und die Schutzmächte beschworen.

Aber auch die Kommune 1 ist ja nicht nur gegen die amerikanische Politik, bei ihrem Advents-Happening haben sie auch Weihnachtsmasken von Walter Ulbricht verbrannt.
Axel Besteher-Hegenbart

SWR2 : Feature am Sonntag: „Der Zirkusdirektor hat das Wort. Walter Höllerer“, Autor Helmut Böttger, 2006
Tilman Fichter, Siegward Lönnendonker: „Berlin: Hauptstadt der Revolte“, 1980, in „Archiv `APO und soziale Bewegungen`“ web.fu-berlin.de
Der Tagesspiegel 24.12.66
Der Tagesspiegel 21.10.66