„Man könnte uns als Schimpansen-Ethnografen bezeichnen“

Christophe Boesch im Gespräch mit Cord Riechelmann

Der Text erscheint im Katalog der Ausstellung:
Ape Culture / Kultur der Affen, Herausgegeben von Anselm Franke und Hila Peleg,
Spector Books ISBN 978-3-95905-000-5 (dt.)

Cord Riechelmann: Herr Professor Boesch, als Sie mit Ihren ersten Arbeiten zum Nüsseknacken der Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste über die Primatologie hinaus bekannt wurden, waren Sie in ein sehr spezielles Feld eingetreten: den Werkzeuggebrauch in nicht-menschlichen Gesellschaften. Es hatte dazu bereits Berichte von Jane Goodall und anderen gegeben, aber Ihre Beobachtungen bezeugten eine deutliche Steigerung des bisher Bekannten: Die Schimpansen benutzten bestimmte Unterlagen und Hämmer, außerdem gab es so etwas wie Werkstätten, zu denen die Tiere immer wieder zurückkehrten, um die Nüsse zu knacken. Können Sie ihren Weg in dieses Feld der Primatologie, den elaborierten Werkzeuggebrauch, beschreiben?

Christophe Boesch: Die Primatologie begann für mich 1973 bei Dian Fossey mit den Berggorillas in Ruanda. Ich war an einem Langzeitprojekt beteiligt, in dem es darum ging, die Gorillas in den Virunga Mountains zu zählen. Wie vielleicht viele junge Leute empfand ich eine Faszination für Gorillas, und weil ich Franzose bin, hat Dian Fossey mich in ihr Team aufgenommen. Im Kontakt mit den Behörden in Ruanda, deren Amtssprache unter anderem Französisch ist, war das hilfreich, und ich konnte Erfahrungen sammeln, die später für mein eigenes Projekt gut zu gebrauchen waren.

Von meinem Professor in Paris hatte ich gehört, dass die Schimpansen in Westafrika, in der Elfenbeinküste, Nüsse knacken könnten. Es war aber nie beobachtet worden. Es gab nur zwei Berichte, in denen es hieß, man hätte Spuren von Nussknackplätzen gefunden, mit geknackten Nüssen und Hämmern – und die Afrikaner, die dabei waren, versicherten, das seien Schimpansen gewesen. Als junger Wissenschaftler habe ich mir gedacht: Erstens, Schimpansen sind interessant, sie sind unsere nächsten Verwandten, und zweitens, der Werkzeuggebrauch – das könnte zu Fragen führen, die auch für uns Menschen bedeutsam sind.

Ich beschloss, das Risiko auf mich zu nehmen und dorthin zu gehen. Und in den sieben Monaten, die ich in der Elfenbeinküste verbrachte, konnte ich tatsächlich eine Schimpansin dabei beobachten, wie sie Nüsse knackte. Zuerst hatte ich nur den Lärm gehört, aber als ich nahe genug war, habe ich sie gesehen: Sie hatte den Hammer in der Hand. Das war die erste Bestätigung überhaupt, dass Schimpansen mit einem Hammer Nüsse knacken. Auf Grundlage dieser Beobachtung konnte ich dann auch mein Projekt mit mehr Geld ausstatten. Mit meiner Frau, Hedwige Boesch, bin ich 1979 in die Elfenbeinküste gegangen – und heute sind wir immer noch dort und arbeiten weiter.

Es ist schwierig, in Afrika mit Schimpansen zu arbeiten, weil sie überall, wo sie vorkommen, von Menschen gejagt werden: weil ihr Fleisch sehr gut schmecken soll und weil es ein Gefühl für die nahe Verwandtschaft gibt, die den Schimpansen übermenschliche Kräfte zuschreibt. Auf Kinder und Kranke soll es positive Wirkungen haben, wenn sie deren Fleisch zu sich nehmen. Deshalb haben auch Schimpansenknochen in der traditionellen Medizin eine besondere Bedeutung. Und weil sie gejagt werden, sind Schimpansen besonders scheu und rennen weg, bevor wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen. Es hat zwei Jahre gedauert, bis wir erste Fortschritte im Umgang mit ihnen feststellen konnten. Um sie gut beobachten zu können – das heißt, um sie beobachten zu können, obwohl sie wussten, dass wir sie beobachten –, brauchten wir fünf Jahre. Diese Zeit ist notwendig, um sich in den Habituationsprozessen so aneinander zu gewöhnen, dass man die Tiere beobachten kann, ohne dass sie ihr Verhalten ändern.

CR: Wenn ich mich recht erinnere, hat Jane Goodall auch fünf Jahre gebraucht.

CB: Genau. Sie hat versucht, den Prozess zu beschleunigen, indem sie ihre Schimpansen mit Bananen gefüttert hat, geholfen hat es aber eigentlich nicht.

Unser großes Glück war, dass die Schimpansen dort Nüsse geknackt haben. Die Nuss-Saison dauert ungefähr vier Monate pro Jahr. Und Nüsse zu knacken, macht Lärm. Obwohl die Schimpansen wussten, dass da Menschen sind – die sie ja nicht haben wollen –, haben sie ihre Anwesenheit durch das laute Nüsseknacken verraten. Wir entwickelten ein Ohr für dieses bestimmte Geräusch und konnten die Schimpansen immer häufiger finden. In den ersten Analysen ging es darum, wie viele Nüsse die Tiere pro Minute öffneten, wie viele Schläge sie brauchten und wer die Nüsse öffnete. Dabei stellten wir fest, dass die Weibchen effizienter waren als die Männchen, was der allgemeinen Tendenz der Wissenschaft widerspricht, die Männer in den Vordergrund zu stellen.

CR: So ist es mir damals auch aufgefallen. Ihre ersten Arbeiten waren eine effektive, fundierte Widerlegung von allem, was aus der „Man-the-Hunter-Hypothese“, der Jagdhypothese über die aktiven Männchen und die passiven Weibchen, folgte.

CB: Genau. Und die Feministinnen, die noch sehr aktiv waren in dieser Zeit, haben meine Arbeit sofort als Argumentationshilfe genommen. Als einen Beweis, dass in unserer Evolutionsgeschichte wahrscheinlich die Frauen eine sehr viel größere Rolle gespielt haben, als ihnen bis dahin zugestanden wurde.

Wir fragten uns aber, wie weit dieses Verhalten in Afrika verbreitet ist. Das erstaunliche Ergebnis war, dass es in der Elfenbeinküste eine Grenze gab, die entlang des Sassandra-Flusses verlief: Alle Schimpansen westlich des Flusses knackten Nüsse und alle Schimpansen östlich davon taten es nicht. Und das, obwohl es östlich des Flusses genauso viele Nussbäume gab, genauso viele Wurzeln, die man als Amboss benutzen konnte, und auch genug Material für Hämmer. Es gab also keine umweltbedingten Faktoren. Daher haben wir angeregt, Nussknacken als kulturelles Verhalten zu verstehen, weil die Erklärung nur eine rein soziale sein konnte. Die Schimpansen auf einer Flussseite machen es, die auf der anderen machen es nicht. Es ist jetzt 24 Jahre her, dass wir das publiziert haben …

CR: Sie haben Ihre Forschungen auf eine faszinierende Weise ins Detail getrieben, bis zu einer Enzyklopädie der Hämmer nach Größe und Form. Verlangte diese Forschung nicht eine umfassende Kenntnis der Individuen, die Sie beobachtet haben? Oder gehe ich da zu weit?

CB: Ganz und gar nicht. Unsere Beobachtungen von Schimpansen – oder generell von Primaten – erfordern, dass wir die Tiere individuell identifizieren. Wir geben ihnen sogar Namen. Und es dauert oft eine frustrierend lange Zeit, bis man zu Ergebnissen kommt. Schimpansen sind ja erst mit 13, 15 Jahren erwachsen. Das heißt, wenn man eine Studie darüber machen möchte, wie ein Verhalten erlernt wird, weiß man, man fängt mit einem Projekt an, das mindestens fünf oder zehn Jahre in Anspruch nimmt. Das macht die Sache schwierig.

CR: Das macht sie a) schwierig, und b) widerspricht es nicht jeglicher Tendenz – von den Wissenschaften selbst ausgegeben –, möglichst schnell zu Ergebnissen zu kommen? Sind Sie damit nicht einer der letzten Vertreter von Langzeitstudien?

CB: Das würde ich nicht sagen. Ich gehöre vielleicht zu dieser Generation, die ihre Studien auf eine lange Dauer angelegt hat, und ich habe am Anfang auch nicht geahnt, dass ich 35 Jahre mit den Schimpansen arbeiten würde. Grundsätzlich ist der Vorteil von längeren Studien gegenüber kurzen aber nach wie vor in der Wissenschaft akzeptiert. Und das gilt auch für die Geldgeber wie den Schweizerischen Nationalfonds, der mich immer unterstützt hat. Gleichzeitig gibt es natürlich eine Verpflichtung der Forscher, immer wieder mit neuen Ideen zu kommen. Das ist klar. Und deswegen habe ich mich nach sechs Jahren, in denen ich zum Nussknacken geforscht habe, einem anderen Thema zugewandt, dem Jagdverhalten der Schimpansen.

CR: Es gibt – ich habe es selbst noch in Vorlesungen gehört – immer noch den Begriff vom „Jagdhassen“*. Jane Goodall wiederum hat die Beobachtung gemacht, dass das Jagen und Fangen von Colobusaffen eine rein männliche Angelegenheit unter den Schimpansen war. Bei Ihnen werden aber weder Hass und Aggression noch der männliche Aspekt besonders betont.

CB: Absolut. Ich glaube nicht, dass diese Vorstellung vom Hass den Schimpansen entspricht. Für viele Räuber ist die Jagd einfach eine Form der Nahrungssuche, die nicht mit Hass oder ähnlichen Emotionen verbunden ist. Das würde die Sache für die Jäger auch unnötig verkomplizieren, weil eine Jagd ein Mindestmaß an Planung beinhaltet. Man sucht nach Beute, oder vielleicht sucht man zuerst Jagd-Teilnehmer und im Anschluss die Beute – womit man nicht jedes Mal erfolgreich sein kann. Das heißt, man muss auch beurteilen, in welchen Fällen es sich lohnt zu jagen und in welchen nicht. Schimpansen, die in Gruppen jagen, müssen sich darüber hinaus auch noch organisieren während der Jagd: Wer nimmt welche Rolle ein, wie kann ich den anderen helfen, denen gerade ein Colobus zu entkommen droht? Wenn das Jagen rein emotional bedingt wäre, würden sich alle nur auf die nächste Beute stürzen und wahrscheinlich nie etwas fangen.

Schimpansen jagen Affen, die kleiner sind, die ganz hoch in den Bäumen leben und Fluchtwege wählen, auf denen ihnen die Schimpansen nicht folgen können. Das heißt, sie müssen sich organisieren, sonst funktioniert das einfach nicht in solchen Wäldern. Damit lässt sich auch erklären, warum die Taï-Schimpansen viel häufiger in Gruppen jagen als Schimpansen in anderen Wäldern, wo es einfacher ist, die Beute in eine Ecke zu drängen.

CR: Gerade am Jagdverhalten der Schimpansen unter den komplizierten Bedingungen des Taï-Regenwaldes hat mir das, was Sie als öko-kulturell bezeichnen, besonders eingeleuchtet, also zum Beispiel die Anforderungen, die bestimmte ökologische Verhältnisse an die Lernprozesse stellen.

CB: Man kann uns auch als Schimpansen-Ethnografen bezeichnen. Ich habe immer großen Wert darauf gelegt zu zeigen, dass Schimpansen ein sehr variables, flexibles Verhalten an den Tag legen und dass jede Population ganz unterschiedliche Verhaltensmuster ausbilden kann. Das sollte man berücksichtigen. Und: Das Verhalten ist teilweise klar durch Umwelteinflüsse bestimmt, im Taï-Wald ist das der dichte tropische Regenwald. In Gombe, in Tansania, wo Jane Goodall gearbeitet hat, haben wir es im Vergleich dazu mit offenem Buschland zu tun: Savannen gemischt mit Wald, wo die Sichtbarkeit, die Topografie, also die Bäume und die Waldstruktur ganz anders geartet sind. Dementsprechend kann man auch erwarten, dass sich Schimpansen – wie viele andere Tierarten – an die ökologischen Umstände anpassen. Und damit kommen wir zurück zum Begriff der Kultur, weil wir eben erwarten, dass sich auch Schimpansen im Lauf der Evolution an die Umstände ihrer Lebensräume anpassen.

Dass eine Tierart in unterschiedlichen Lebensräumen unterschiedliche Verhaltensmuster zeigen kann, hat aber noch nichts mit Kultur zu tun, das ist lediglich eine Anpassung an die Umwelt. Es war für uns, die wir eine Tür für die Kultur der Tiere öffnen wollten, also Pflicht zu beweisen, dass die kulturellen Unterschiede zwischen einzelnen Populationen nicht von den Umweltbedingungen abhängig sind – obwohl wir wissen, dass Kultur beim Menschen auch umweltabhängig ist. Die Definition von Kultur, die wir zu Anfang benutzt haben, um Kultur bei Tieren zu zeigen, war also strenger umgrenzt als die Kriterien, die man beim Menschen angelegt hat. Das ist natürlich nicht ganz fair ...

CR: Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Aspekt Ihrer Arbeiten. Michel Foucault hat einmal gesagt, wenn er mit Außenseitern arbeitet, wie beispielsweise mit psychisch Kranken, dann muss er genauer sein als bei normalen, gesunden Menschen. Damit will ich jetzt nicht Schimpansen und psychisch kranke Menschen vergleichen. Ich finde es aber den Schimpansen gegenüber die fairste Lösung, bei ihnen strengere Kriterien anzulegen.

CB: Es ist eben sehr schwierig, weil es in den wissenschaftlichen Diskussionen immer zwei Lager gibt. Wenn man mit Schimpansen arbeitet, ist die Lage vielleicht noch gravierender, weil wir die berühmte große Barriere berühren. „Die goldene Barriere“ hat sie Stephen Jay Gould genannt, die den Menschen von allen anderen Lebewesen trennt oder trennen sollte. Das ist natürlich auch der Reiz, warum ich mit Schimpansen arbeite. Wie alle Schimpansen-Forscher möchte ich sehen, wie hoch diese Barriere tatsächlich ist. Sie wurde gewissermaßen theoretisch gesetzt, zu Beginn von der Religion, später auch von Wissenschaftlern und Philosophen. Sokrates, Rousseau und all die anderen hatten ja keine Ahnung, was diese Tiere machen und können. Es gab nur Reiseberichte oder Darstellungen von Einzeltieren, die man zufällig beobachtet hatte – oft genug waren die Tiere sogar schon tot. Man hatte keine Vorstellung von Menschenaffen in ihrer natürlichen Umgebung, und diese Blindheit der Wissenschaft hat bis Anfang der 1960er Jahre vorgehalten. Erst zu diesem Zeitpunkt sind Jane Goodall und andere Biologen oder Verhaltensökologen in die Natur gegangen und haben die Tiere in ihrem normalen Lebensumfeld beobachtet.

Das heißt, wir verfügen heute über den unglaublichen Luxus, Wissenschaft zur Frage der goldenen Barriere betreiben zu können. Ich bin jedes Mal ein bisschen entsetzt, wenn ich sehe, dass die Freude daran, diese Barriere auszutesten, von vielen Wissenschaftlern gar nicht empfunden wird. Um damit sind wir wieder bei der Kultur angelangt …

Kultur ist ein Begriff, den Menschen für Menschen gemacht haben, um die größte Errungenschaft eben der Menschheit darzustellen. Wenn wir also über Kultur bei Tieren sprechen, ist es klar, dass die Skeptiker, die die andere Seite der Barriere für sich in Anspruch nehmen, alles sehr kritisch beobachten. Und das Problem mit dem Beweis von Kultur beim Nussknacken ist, dass wir auf der einen Seite Populationen haben, die Nüsse knacken, und auf der anderen Seite Populationen, die NICHT knacken. Es ist sehr schwer zu ergründen, warum eine Population oder ein Tier etwas nicht tut.

Ein Vorteil unseres Projekts mit den Taï-Schimpansen ist aber, dass wir früh angefangen haben, benachbarte Gruppen an menschliche Beobachter zu gewöhnen. So konnten wir über Jahre hinweg drei benachbarte Gruppen verfolgen und auf kulturelle Unterschiede hin untersuchen. Während der Nussknacksaison konnten wir feststellen, dass die Gruppen jeweils spezifische Kriterien dafür haben, wie man einen guten Hammer auswählt: Die drei Gruppen, die regelmäßig aggressive Kontakte haben und wahrscheinlich auch Weibchen austauschen, haben jeweils klare unterschiedliche Vorlieben bezüglich der Hämmer, die sie benutzen.

Wir haben also drei benachbarte Gruppen in demselben Wald, in dem sie auch Kontakte haben. Trotzdem bleiben klare kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Kriterien, nach denen sie ihre Hämmer wählen. Das ist sehr merkwürdig, weil es sogar regelmäßig Weibchen gibt, die von einer Gruppe zur anderen wandern**. Das zeigt, dass die Weibchen sich den Gewohnheiten ihrer neuen Gruppe anschließen. Und die Weibchen wandern aus, wenn sie zwischen zehn und zwölf Jahre alt sind – ein Alter, in dem sie schon sehr gute Nussknackerinnen sind. Sie beherrschen also die Technik ihrer Geburtsgruppe, wenden aber, wenn sie in eine neue kommen, deren Techniken an.

CR: Und das ist dann unter ökologisch gleichen Bedingungen nicht mehr öko-kulturell, sondern sozusagen rein kulturell?

CB: Ein echter Beweis für kulturelles Verhalten.

CR: Ich möchte gern noch auf zwei Sachen zu sprechen kommen, die auch etwas mit Kultur zu tun haben, aber nicht von den Schimpansen ausgehen. Erstens: Sind Sie immer mit den jeweiligen Regierungen in Fragen Ihrer Forschungserlaubnisse zu einer Einigung gekommen?

CB: Ja immer. Zum Glück.

CR: Und zweitens: Hat sich der Wald mit den Jahren verändert?

CB: In den letzten 35 Jahren ist die Entwaldung in der Elfenbeinküste so rasant vonstatten gegangen, dass es jetzt nur noch im Nationalpark Urwald gibt. Das ist sehr traurig, aber auch verständlich, in dem Sinne, dass die Menschen die Natur nie berücksichtigt haben. Wir haben alles kaputt gemacht und eine Konsequenz daraus ist, dass die Menge der Regenfälle in Afrika seit über 60 Jahren so drastisch wie kontinuierlich sinkt. Dadurch vergrößert sich die Wüste und wandert Richtung Süden – und was sollen die Menschen machen? Sie können keine Landwirtschaft mehr betreiben und wandern ebenfalls nach Süden. Die Bevölkerung an der Küste hat sich verdreifacht, über die Hälfte sind Zuwanderer aus dem Norden. Es ist klar, dass das auf Kosten der Wälder geht. Durch die Vernichtung der Wälder geht wiederum die Austrocknung Afrikas weiter. In der Elfenbeinküste zum Beispiel regnet es weniger und es gibt jetzt entlang der Küste Trockenzeiten – das gab es vorher nie. Was wir hier miterleben – in Afrika oder auf anderen Kontinenten –, ist eine Folge des Klimawandels. Das heißt auch, dass die Tiere, die in diesen Wäldern gelebt haben, nicht mehr da sind. Mit den Wäldern sind die Elefanten, Schimpansen und Waldantilopen allesamt verschwunden.

CR: Ich würde Sie gern fragen, wie Sie es schaffen, angesichts der im Grunde ausweglosen Lage Ihrer Schimpansen so enthusiastisch weiterzuarbeiten, nicht nur in der Elfenbeinküste, sondern auch mit Ihrem „Pan African Programme: The Cultured Chimpanzee“, das alle noch existierenden Populationen zu erfassen und zu erforschen versucht?

CB: Ich glaube, man arbeitet im Schimpansenschutz nur, wenn man ein – sagen wir mal – unverbesserlicher Optimist ist. Es gibt leider immer wieder Grund genug zur Frustration, und öffentlich darüber zu reden ist nicht gut, weil man die Umweltschutzbemühungen schlechter verkaufen kann. Aber es ist die Wahrheit. Ich denke, man muss sie in Kauf nehmen und nicht immer Illusionen verbreiten.

CR: Meine Frage haben Sie beantwortet. Ich möchte trotzdem noch einmal fragen, wie Sie zu dieser für mich wunderbaren Haltung kommen, dass es in dieser Situation für einen Wissenschaftler gar keine andere Möglichkeit gibt, als weiter zu forschen?

CB: Ich kann gut verstehen, wenn jemand, der Forschungen mit wilden Populationen betreibt, so deprimiert wird, dass er sagt: Ich kann nicht mehr, weil meine Tiere verschwinden. Eine andere Strategie ist, aktiver im Umweltschutz zu werden. In der Primatologie ist das bei vielen Forschern deutlich zu sehen.

CR: Für mich war Ihr Engagement auch deshalb immer so einleuchtend, weil Sie radikal auf der Unterscheidung von wilden Populationen und anderen, etwa in Zoos, bestanden haben. Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie sogar, eine Vergleichbarkeit sei nicht gegeben.

CB: Wie bereits erwähnt, lege ich großen Wert auf die Flexibilität des Verhaltens bei hochentwickelten Tieren. Und das nicht nur bei Schimpansen. Ich habe selbst monatelang Schimpansen an verschiedenen Orten beobachtet und unmittelbar erlebt, wie stark die Populationsunterschiede sind, wie groß der Umwelteinfluss ist. Ich betrachte die Tiere also von der natürlichen Seite her. Wenn ich dagegen ein Tier im Zoo oder in Käfigen sehe, weiß ich, dass das vollständig künstliche Lebensbedingungen sind. Die Tiere sind flexibel genug, sich auch daran anzupassen – nicht unbedingt zu ihrem Besten, aber sie passen sich an. Ich bin der Überzeugung, dass Tiere, die in solchen künstlichen Umwelten aufwachsen und leben, benachteiligt sind. Gefangenschaft bedeutet eine vollständig passive Umwelt, dort passiert nichts. In diesem Sinne sind sie also – verglichen mit freilebenden Tieren – sehr viel ärmer. Ich habe das jahrelang immer wieder betont, zum Glück wird es gerade in letzter Zeit mehr und mehr wahrgenommen. Es gibt mittlerweile Studien, die konkret beobachten, welchen Einfluss auf das Verhalten und noch stärker auf die Entwicklung des Hirns die künstlichen Lebensbedingungen haben. Daraus kann man nur schließen, dass die Gefangenschaft schlecht für die Entwicklung der Tiere ist. Ich würde jetzt trotzdem nicht sagen, man soll aufhören, mit gefangenen Tieren zu arbeiten, weil es sicher einige Dinge gibt, die man dort untersuchen kann. Man kann aber nicht in der Gefangenschaft gewonnene Erkenntnisse generalisieren und auf wilde Tiere übertragen. Es ist ein Problem der Interpretation und Generalisierung.

* Der Begriff wurde von Irenäus Eibl-Eibesfeldt, einem Schüler von Konrad Lorenz, geprägt.

** Schimpansen leben in Gruppen, in denen die Männchen immer in ihren Geburtsgruppen bleiben, und die Weibchen, wenn sie geschlechtsreif werden, auswandern und sich anderen Gruppen anschließen.

Christophe Boesch leitet die Abteilung für Primatologie des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Seit 1976 erforscht er frei lebende Schimpansen-Gruppen u.a. im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste, um das Verhalten der Schimpansen in ihrem natürlichen Habitat zu studieren – insbesondere soziale Lernprozesse und die Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen etwa beim Werkzeuggebrauch. Angesichts der zunehmenden Bedrohung der Schimpansen durch die Vernichtung des Regenwalds gründete Boesch 2000 die „Wild Chimpanzee Foundation“, die sich für den Schutz ihrer Lebensräume einsetzt. Gemeinsam mit Hjalmar Kühl leitet er das „Pan African Programme: The Cultured Chimpanzee“, das in mehr als zwölf afrikanischen Ländern das Verhalten und die Lebensräume von 40 verschiedenen Schimpansenpopulationen erfasst.